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Die Kunst ist die Tochter der Freiheit

Kathrin Lange • Sept. 10, 2018

An dem kleinen Tisch im Restaurant sitzt sie vor mir. Sie ist eine mütterlich wirkende Frau, mehrere Jahre älter als ich, und ihre Blicke forschen in meinem Gesicht herum, als versuche sie herauszufinden, was gleich passieren wird.

Vor ein paar Tagen haben wir telefoniert und in diesem Moment muss ich an dieses Telefonat denken. „Ich möchte mit jemandem sprechen, der auch jetzt noch von sich sagt, er würde AfD wählen“, habe ich zu ihr gesagt. „Ich möchte versuchen, zu verstehen, warum.“

„Auch jetzt noch“ – das meint: nach Chemnitz 2018.

„Das kann ich Ihnen sagen“, hat sie erwidert und dann fast eine halbe Stunde lang geredet. Erst bemüht sachlich, dann immer erregter. Einiges von dem, was sie mir gesagt hat, hallt noch in mir nach, besonders dieser eine Satz: „Mein [Schwager] arbeitet Dreischicht und verdient 1.200 Euro, aber diese Ausländer haben teure Jeans und das neuste Handy!“

Nun also treffen wir uns.

Sie bestellt Soljanka, ich Farfalle mit Tomaten und Oliven. Gestern bin ich mit dem IC durch dieses Land gefahren, nicht zum ersten Mal, denn ich habe in dieser Kleinstadt kurz vor Zwickau schon zweimal gelesen. Und nicht zum ersten Mal habe ich mich auf der Fahrt hierher gewundert, wie viele Häuser am Streckenrand noch aussehen, als habe die DDR vor gerade mal zwei Jahren aufgehört zu existieren. Industrieruinen, die mich schon öfter auf Ideen für Krimiszenen gebracht haben. Gestern allerdings habe ich sie mit dem mulmigen Gefühl im Magen betrachtet, das Chemnitz 2018 in mir wachgerufen hat. Und ich habe mich dabei ertappt, dass ich die Menschen im Zug gemustert und mich gefragt habe, ob jemand von ihnen bei einer der rechten Demonstrationen mitgelaufen ist. Oder wäre.

Wäre reicht schon.

Mir fallen Worte von meinem Großvater ein, an die ich Jahrzehnte lang nicht gedacht habe: „Sei froh, dass du nicht dreißig Kilometer weiter im Osten geboren bist!“ Er hat das immer zu mir gesagt, wenn ich unartig gewesen bin. Gemeint hat er die DDR, die er bis an sein Lebensende, auch noch lange nach 1989, nur „die Ostzone“ genannt hat. Wir haben damals im „Zonenrandgebiet“ gewohnt.

Nun also Soljanka und Farfalle und ich habe mich noch nie zuvor so sehr als Wessi gefühlt, wie in diesem Augenblick.

Bei meinem Telefonat mit dieser Frau, die ich an dieser Stelle einmal Frau Sommer nennen möchte, ist nie richtig deutlich geworden, ob sie mir nur exemplarisch erklärt hat, wie AfD-Wähler ticken, oder ob sie selbst auch diese Partei wählt. Am Telefon habe ich mich nicht getraut, sie das zu fragen, und auch jetzt wird das Gespräch die ganze Zeit in diesem sonderbaren Schwebezustand bleiben: Reden wir von ihr oder von Leuten, die sie kennt?

Wir brauchen beide diesen kleinen und nicht ganz ehrlichen Ausgleich zu unserer Anspannung, habe ich das Gefühl.

Da sie Faris Iskander-Fan ist, beginnen wir das Gespräch damit, über den letzten Band der Reihe zu sprechen. Und sofort wird es politisch. Denn Frau Sommer erklärt mir, dass ihr der dritte Roman der Reihe nicht gefallen hat. „Zu politisch.“ Vor allem aber: „Zu viel Verständnis für die Islamisten.“

Okay. Damit sind wir direkt am Punkt, denn sie lässt folgen: „Wenn Ausländer Verbrechen begehen, haben sie hier bei uns nichts zu suchen!“

Ein Satz, dem ich sofort zustimme, wenn ich auch nicht so ein deutliches Ausrufezeichen hinter diese Aussage setzen würde wie sie.

Im Folgenden geht es darum, dass Gesetze geändert werden müssen („Wir brauchen dringend ein Einwanderungsgesetz!“) und dass Deutschland es mit der Migration genauso machen sollte, wie Kanada und die USA: nur die Menschen reinlassen, die sich selbst versorgen können oder nützlich für die Wirtschaft sind. Ich erwähne das Recht auf politisches Asyl, das aus den historisch bekannten Gründen im Grundgesetz verankert ist. Bei unserem Telefonat, bei dem sie sehr viel weniger beherrscht war als im Moment, hat sie von einer nötigen Grundgesetzänderung gesprochen. Jetzt ist sie vorsichtiger, sagt, dass das Grundrecht auf politisches Asyl ja auch bleiben könne, dass man aber eben von Fall zu Fall prüfen müsse, ob jemand wirklich politisch verfolgt ist.

„Was ja auch geschieht“, sage ich.

„Es war doch unverantwortlich, was Merkel da gemacht hat“, sagt sie. Es folgen eine ganze Reihe von Aussagen über kriminelle Ausländer, über unbegleitete junge Männer aus einem anderen Kulturkreis und deren sexuelle Bedürfnisse, samt einer Geschichte von Übergriffen im Schwimmbad. Einmal fällt ein Satz, der andeutet, dass „die alle“ kriminell sind, was sie sofort zurücknimmt, vermutlich, als sie meinen Gesichtsausdruck sieht. Wir landen bei den organisierten Araberclans, und wieder finden wir schnelle Einigung, dass „das, was die machen, gar nicht geht!“ Diesmal empfinde ich Ihr Ausrufezeichen mit. Ihre Ausführungen spickt sie oft mit Sätzen wie „das hat mir ein Freund erzählt“ oder „ich habe viele Freunde, die sind bei der Polizei und die finden ...“ Einmal sagt sie: „Viele meiner Bekannten sind ja Künstler, wie Sie ...“

Kurz überlege ich, sie zu fragen, was für eigene Erfahrungen sie denn gemacht hat, lasse das aber sein. Ich habe mir vorgenommen, zuzuhören, also höre ich weiter zu, auch, als sie anfängt mit Sätzen wie „Das kann man ja in der Presse lesen!“

Hier hake ich dann allerdings doch nach und frage sie, was „die Presse“ ist.

Das bringt sie in Verlegenheit, und ich beschließe nun doch, selbst das Wort zu ergreifen. Ich sage ihr, dass ich ihre Ängste und Sorgen verstehen kann, aber dass ich ihr nun gern von ein paar eigenen Erfahrungen berichten möchte. Dann erzähle ich ihr von den jungen Afrikanern, die in unserem Dorf untergebracht sind, und davon, dass ich zeitweise allein mit fünf oder sechs von ihnen zusammensaß und Deutschunterricht gegeben habe, und zu keiner Sekunde auch nur ein ungutes Gefühl hatte oder gar bedrängt worden bin. Wohingegen es mir 2015 sehr wohl mulmig dabei gewesen ist, dass eine sogenannte „Bürgerwehr“ von ortsbekannten Neonazis meinte, die Deutschen vor den "fremden Kriminellen" beschützen und bei Einbruch der Dunkelheit uniformiert durch den Ort patrouillieren zu müssen. Ich erzähle ihr von Geldern, die für die Flüchtlingshilfe vorgesehen waren, von denen wir Ehrenamtlichen allerdings wenig bis nichts gespürt haben, und von Anschlägen auf das Flüchtlingsheim. „Da haben Sie Glück gehabt“, sagt sie, und ich weiß nicht genau, welchen Aspekt meiner Schilderungen sie meint.

Wir sind beide froh, dass das Essen kommt und wir eine Weile schweigen können.

„Alles das habe ich nicht von Freunden oder Bekannten, sondern selbst erlebt“, sage ich, und habe das Gefühl, sie versteht, worauf ich hinaus will. Und ich wähle nicht AfD , muss ich nicht mehr hinterherschieben.

Am Telefon hat sie mir verraten, dass sie Angst hat, über kurz oder lang könnten in Deutschland wieder Zustände herrschen wie 1933. Da habe ich verständnislos reagiert und gesagt: „Aber es ist doch ganz einfach, dafür zu sorgen, dass das nicht der Fall ist!“

Wie?

„Indem Sie nicht AfD wählen!“

Am Telefon hat sie gesagt, die Wähler seien nicht schuld, wenn wir wieder in die Dreißiger Jahre abdriften würden. Die Regierung sei es schließlich. „Wenn die vernünftige Arbeit machen würden ...“

Es ist einer dieser Sätze, über die ich seit Tagen nachdenke.

„Ich habe auch Angst, dass es wieder so wird, wie 1933“, sage ich jetzt. „Und ich frage mich, was wir - Leute wie Sie und ich - dagegen tun können.“

An dieser Stelle macht mir der Zustand des Ungefähren, in dem wir uns bewegen, Probleme, aber Konfrontation würde nichts bringen, das spüre ich deutlich. Sätze wie: „Wählen Sie eben nicht AfD!“ würden das Gespräch abwürgen. Allerdings kommen wir auch so nicht weiter, denn Frau Sommers Denken gipfelt in der Erkenntnis, dass „die da oben uns doch alle verarschen“.

„Allen voran tut das die AfD“, sage ich.

„Die haben auch keine Lösungen für die Probleme“, sagt sie.

Aha , denke ich und frage: „Was hat die sogenannte Flüchtlingskrise bisher gekostet? Wissen Sie das? 50 Milliarden?“ Ich schätze die Zahl.

„63,5“, sagt sie. Ich weiß nicht, ob sie die Zahl wirklich parat hat, aber ich sehe ihr an, dass sie daran denkt, was man mit den Milliarden alles hätte machen können. Vorhin, irgendwann, haben wir auch darüber geredet, dass für die Flüchtlinge plötzlich Geld existierte, während vorher für Bildung und Straßenbau keines da war.

„Nach 2008 wurden die Banken mit 80 Milliarden gerettet“, sage ich. Auch diese Zahl habe ich nicht parat, schüttele sie aus dem Ärmel. Später erst habe ich recherchiert. Laut einer Veröffentlichung der Deutschen Wirtschaftsnachrichten von 2015 waren es sogar 236 Milliarden.

„Auch dafür war plötzlich Geld da“, sage ich. „Warum sind die Menschen dagegen nicht auf die Straßen gegangen? Warum jetzt, wo es gegen Flüchtlinge, gegen Menschen, geht?“ Es ist eine Frage, die mich ernsthaft umtreibt. Ich verrate Frau Sommer nicht, dass ich glaube, die Antwort zu kennen. Stattdessen lasse ich sie weiterreden, und jetzt wird das Gespräch für mich unbefriedigend, denn nun gleitet sie in wilde Verschwörungstheorien ab, darüber, dass man nicht mehr lange lebt, wenn man gegen „die Großen und die Pharmaindustrie“ etwas unternehmen will. Woher sie die Pharmaindustrie holt, ist mir nicht klar. Plötzlich ist auch Barschel im Spiel und sein rätselhafter Tod.

Ich beende das Gespräch.

Wir reden dann noch eine Weile. Über die schöne Kleinstadt, in der wir uns gerade befinden. Die Häuser hier sind saniert, alles wirkt hell und freundlich. An dem Kunsthaus steht ein Satz von Schiller: „Die Kunst ist die Tochter der Freiheit.“

Bei der Veranstaltung, für die ich eigentlich hier bin, hat die sächsische Staatsministerin für Wissenschaft und Kunst sehr deutliche Worte gegen rechte Tendenzen gefunden und der Geschäftsführer des Landesverbandes des Deutschen Bibliotheksverbandes hat von Initiativen berichtet, mit denen in Sachsen Leseförderung betrieben wird.

Sachsen nennt sich selbst Bildungsland.

Am Abend im Hotel bleibe ich auf der Suche nach Zerstreuung bei einer Streaming-Serie hängen, die „The Affair“ heißt. Es geht darin um die Frage, wie die eigene Wahrnehmung die Realität verzerrt. Und darum, was Wahrheit ist.

In knapp vier Wochen bin ich wieder auf Lesereise in Sachsen.

Schattenarmee




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