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MEINE GEDANKEN UND ICH

von Kathrin Lange 22 Feb., 2023
„Halboriginell reicht und ist billiger.“ Das ist ein Satz, der mir von gestern Abend im Ohr geblieben ist. Gesagt hat ihn eine Autorenkollegin, die an einer kleinen privat organisierten Online-Tagung zum Thema „ChatGPT – Wenn künstliche Intelligenz kreativ wird“ teilgenommen hat. Wir trafen uns auf meine Initiative hin im virtuellen Raum, um uns über Möglichkeiten und Gefahren der neuen Technologie Chat-Bot auszutauschen und darüber zu diskutieren. Die Runde war zusammengesetzt aus Autor*innen von Science-Fiction, Krimis und Kinder-/Jugendbüchern, Kulturvermittler*innen, einer Wissenschaftlerin und einer Verlegerin. Neben einem kurzen Diskurs über politisch-gesellschaftliche Fragen („Ist der Bot politisch links orientiert?“ (s. dazu Link) / „Trägt er dazu bei, dass die Bildungsschere in unserer Gesellschaft noch weiter aufklaffen wird?“) ging es dann vor allem um die Veränderungen, die sich für Autor*innen und die Buchbranche ergeben. Allgemein spürbar war in der Runde eine gewisse Unsicherheit, wo die Reise hingehen wird. Relativ einig war man sich allerdings darin, dass es nicht mehr allzu lange dauern wird, bis KIs in der Lage sind, „Coverversionen, die etablierte Muster reproduzieren“ abzuliefern, also das zu schreiben, was schon vor der Causa Weinstein als „Me-too“-Literatur bezeichnet wurde: Romane, die einen erfolgreichen Stoff kopieren, indem sie ihn leicht variieren. Bestimmte Girl meets Boy-Storys seien demnach ebenso betroffen, wie formalisierte Krimiplots oder die hundertste magische Tierschule-Blumenladen-Reihe. In diesem Zusammenhang stellte sich die Frage, ob es diese Art der Literatur in Zukunft vielleicht gar nicht mehr geben wird, weil sich ja dann jeder Leser oder jede Leserin von der KI die Wunschgeschichte nach eigenen Vorgaben erzählen lassen kann. Ich musste spontan an ein Zitat von Toni Morrison denken: „Wenn es ein Buch gibt, das du gerne lesen willst, das aber noch nicht geschrieben wurde, dann musst du es selbst schreiben.“ Sie hat es vermutlich anders gemeint. Während dieser Diskussion fiel übrigens auch der oben genannte Satz. Verlage, die heute schon Buchreihen kopieren und sie von ihren Lektoratssssistentinnen schreiben lassen, weil „halboriginell eben auch reicht und vor allem billiger ist“, werden möglicherweise keinen Bedarf mehr für eben jene Lektoratsassistentinnen haben. Deren Job erledigt dann ja die KI. Hier klingt durch, dass die neue Technik nicht nur den Beruf Autor*in fundamental verändern wird, sondern auch die gesamte Buchbranche. Intensiv diskutiert wurde im Anschluss über die Frage, ob der Bot in Zukunft auch in der Lage sein wird, „originelle Texte zu erschaffen“, mithin, „Literatur-Literatur“ (in Abgrenzung zu Unterhaltungsliteratur) zu schreiben. Der Abend hinterließ bei mir etliche Aha-Effekte und warf ganz neue Fragen auf. Wird ChatGPT den Graben zwischen E und U weiter vertiefen? Außerdem: Google steckt Milliarden in die Entwicklung von ChatGPT. In den USA gibt es seit Jahren einen Rechtsstreit um die Frage, ob die Firma ganze Bücher online stellen darf (s. dazu Link). Hierin steckt gleich ein ganzer Strauß von Urheberrechtsfragen. Wie werden KI-Anfragen à la „Was sagt Susanne Thiele auf ihrem Blog Mikrobenzirkus über Antibiotikaresistenzen?“ vergütet werden? Wird es eine Art VG-Chatbot geben? Erste Forderungen von Verlagen für eine angemessene Vergütung existieren bereits (s. dazu Link). Wenn ich mir ansehe, wie sehr die Gesetzgeber seit Jahrzehnten hinter der Digitalisierung herhecheln, wage ich jedoch, zu bezweifeln, ob es diesmal für die Kreativen positiver ausgeht. Was für mich an diesem Abend auf jeden Fall mehr als deutlich geworden ist: Wir Schreibende stehen vor der wichtigen Aufgabe, unser Selbstverständnis völlig neu zu denken. Ob wir diese Herausforderung annehmen, wird jede und jeder von uns selbst entscheiden müssen. Ob das eigene Fortbestehen als Autor*in davon abhängt, wird sich zeigen, aber vielleicht heißt es ja bald wirklich frei nach Mark Twain: „Es ist idiotisch, sieben oder acht Monate an einem Roman zu schreiben, wenn man sich in wenigen Minuten per KI einen erstellen lassen kann.“ Linkliste: Ist ChatGPT politisch links orientiert? https://the-decoder.de/chatgpt-ist-politisch-links-orientiert-studie Google und die Buchwelt: https://www.stern.de/digital/online/darf-google-books-millionen-buecher-einfach-ins-internet-stellen--6803590.html Verlage verlangen finanzielle Beteiligung: https://www.wbs.legal/urheberrecht/google-will-kuenftig-ki-antworten-anzeigen-verlage-verlangen-finanzielle-beteiligung-64082/ "Was ist ChatGPT und wie funktioniert es? – Und welche ähnlichen Tools gibt es?" Vortrag von Prof. Dr. Doris Weßels, Professorin für Wirtschaftsinformatik an der FH Kiel: https://www.youtube.com/watch?v=cMuBo_rH15c Das Kreative ist ein Fehler: ChatGPT als Tod des Autors? Christian J. Bauer schreibt bei Literaturcafe.de über das Thema: https://www.literaturcafe.de/das-kreative-ist-ein-fehler-chatgpt-als-tod-des-autors/ Nick Cave hat sich sehr deutlich zu dem Thema geäußert: https://www.forbes.com/sites/barrycollins/2023/01/17/nick-cave-savages-chatgpt-for-grotesque-mockery-of-his-songs/ Und, ganz zum Schluss, noch ein hübscher SF-Nerd-Scherz zum Thema, der sich auf Twitter findet: https://twitter.com/MartinFoertsch/status/1604442074694254592
von Kathrin Lange 12 Apr., 2021
Mein Jugendroman "Wenn die Nebel flüstern, erwacht mein Herz" ist in der Kategorie "Bester Roman" für den SERAPH 2021, den Preis der Phantastischen Akademie, nominiert.
von Kathrin Lange 06 Juli, 2020
Heute morgen las ich wie jeden Morgen den Newsletter des Börsenblatts, des Branchenorgans des Buchhandels. Unter der Überschrift "Bäume pflanzen statt Preisänderung" wurde dort verkündet, dass zwei nicht ganz kleine Verlage sich entschieden haben, mit den Mehreinnahmen, die die Mehrwertsteuersenkung ihnen beschert, Gutes zu tun.1 Der Klett-Verlag möchte mit dem Geld diejenigen unterstützen, "die es im Zuge der Pandemie echt schwer hatten: Eltern von kleinen Kindern"2. Und die Berliner Verlagsgruppe möchte mit dem Geld 50 Bäume für Prima Klima e.V. pflanzen. Tolle Ideen! Oder? Damit kein Missverständnis entsteht: Auch ich finde Eltern und den Wald hochgradig unterstützens- und schützenswert. Trotzdem verursacht mir als Autorin diese Art von Marketing ein schales Gefühl. Seit die Mehrwertsteuersenkung verkündet wurde, habe ich nämlich schon einen ganz radikalen Gedanken: Wie wäre es, wenn Verlage die Menschen "unterstützen", die es gerade ebenfalls „echt schwer“ haben, und die trotzdem und auch noch jetzt in der Krise dafür sorgen, dass sie überhaupt etwas haben, was man veröffentlichen kann? Auf den Punkt gebracht: Warum kommt keiner auf die Idee, dass man die Mehrwertsteuersenkung auch (von mir aus zur Hälfte) an die Kreativen weitergeben könnte? Ich wünsche mir einen Aufschrei der Autorinnen und Autoren, denen hier wieder einmal verdeutlicht wird, dass sie sich in der ganzen Kette der Wertschöpfung bitte ganz hinten anstellen dürfen. Hinter den Kunden, klar. Die sind wichtig. Aber bitte auch hinter den Bäumen (die liefern schließlich das Holz fürs Papier – okay, ich gebe zu, ich werde gerade ein bisschen polemisch, aber ich bin irgendwie auch echt sauer). In meinen Augen ist das kein gelungenes Marketing, sondern ein weiterer Tritt in den Allerwertesten von uns Kreativen. Jetzt gerade, wo ich hier sitze und dies schreibe, stelle ich mir vor, dass ein Verlag vorangeht, und genau das einfach macht: Solidarität mit seinen Autor*innen zeigen. Klar, das wäre kein großer Marketing-Coup, weil irgendwie jeder spürt, dass es eine Selbstverständlichkeit sein sollte. So retten wir eben stattdessen Bäume und es bleibt wieder mal alles beim: Danke für nichts! 1 Zum Grund, warum sich so viele Verlage entschieden haben, die Preissenkung nicht an die Kunden weiterzugeben, s. meinen Blogbeitrag vom 1.7.2020 . 2 https://www.boersenblatt.net/news/verlage-news/baeume-pflanzen-statt-preisaenderung-109783?fbclid=IwAR3Q07Nj8-RRQfHul9DDZKqhwEl9KaWcHlWeNFaBlBoo7uIDzVLBdGSO_dY#comment-11645, (abgerufen 6.7.2020) Beitragsfoto by Matthew Smith on Unsplash
von Kathrin Lange 30 Juni, 2020
Der Gesetzgeber hat die Mehrwertsteuer-Senkung als Werkzeug der Konsumankurbelung beschlossen. Die Leute kaufen wieder mehr Autos, Klamotten, Möbel – und eben auch Bücher, wenn sie jetzt für einen geringen Zeitraum billiger sind. So der Gedanke, und aus diesem Grund werden Bücher im Moment statt mit 7% wie bisher mit 5% besteuert. (Der verminderte Mehrwertsteuersatz für Bücher gilt, weil man das Buch als wertvolles Kulturgut ansieht und entsprechend fördern möchte.) Trotzdem haben sich die meisten Verlage entschieden, die Preise für Bücher nicht herunterzusetzen und das hat nur auf den ersten Blick mit Gier zu tun. Es ist in einer Besonderheit der Buchbranche begründet: der Preisbindung für Bücher. Preisbindung bedeutet, dass jedes Buch, das in Deutschland erscheint, überall genau das gleiche kostet. Die kleine Buchhandlung irgendwo auf der schwäbischen Alp verkauft also den neuen Fitzek oder das Special interest-Sachbuch über Fliegenfischen zum gleichen Preis wie die riesige Thalia-Filiale oder der Online-Krake mit dem großen A im Namen (ja, auch der unterliegt der Preisbindung, und das nervt den massiv, glaubt mir!). Wie der verminderte Mehrwertsteuersatz dient auch die Preisbindung dazu, das Buch als Kulturgut zu unterstützen und seine Verbreitung bis in die letzten Winkel unserer Republik sicherzustellen. Eine gute Sache also, von der auch wir Autor*innen profitieren. Allerdings kommt genau diese Preisbindung dem Ziel der Mehrwertsteuersenkung in die Quere, und das hat mehrere Gründe. Erstens: Damit alle Buchhandlungen ein Buch zu demselben Preis verkaufen, legt der entsprechende Verlage diesen Preis fest und veröffentlicht ihn (z.B. in der Verlagsvorschau). Natürlich können nun auch Verlage einfach ihren Preis um den entsprechenden Prozentbetrag verringern und die Mehrwertsteuersenkung so den Kunden zugute kommen lassen. Ja. Könnten sie machen. Dann würden die auf den meisten Büchern eingedruckten Preise eben für die paar Monate nicht gelten. Ist ja nicht so schlimm. Aber, und das ist der Haken an der Sache: Die Verlage sind per Verordnung dazu verpflichtet, Preissenkungen entsprechend zu veröffentlichen. Gängige Praxis ist, das per Preisänderungsanzeige in den sogenannten Gelben Seiten des Börsenblatts zu tun, natürlich kostenpflichtig. Auch nicht so schlimm, schaltet man eben eine Anzeige, in der steht, dass alle Bücher von Verlag xy jetzt entsprechend billiger verkauft werden. Auch das könnte man mit Sicherheit regeln, wo in Coronazeiten ja plötzlich so vieles möglich ist, was vorher aus irgendwelchen fadenscheinigen Gründen nicht ging. Aber dann muss die Buchhandlung immer noch überprüfen, welcher Verlag die Mehrwertsteuersenkung an seine Kunden weitergibt und welcher nicht. Eine Buchhändlerin kann also nicht einfach, wie ein Supermarkt oder Autohänder, an der Kasse den entsprechenden Prozentbetrag automatisch vom Kaufpreis abziehen. Verkauft sie nämlich ein Buch eines Verlages, der den Ladenpreis eben nicht gesenkt hat, billiger, kann sie auf Schadenersatz und Unterlassung in Anspruch genommen werden. Die Senkung bedeutet also extrem viel Aufwand für die Buchhandlung, aber als Kunde könnte man sich jetzt immer noch denken: Na und? Müssen sie sich die Arbeit eben machen. Leider gibt es nun aber noch einen weiteren, ziemlich gemeinen Haken an der Sache. Und auch der hat mit einer weiteren Besonderheit des Preisbindungsgesetzes zu tun. Die besteht nämlich in Folgendem: "Eine Reduzierung des gebundenen Ladenpreises" löst "ein Recht des Handels auf Remission bzw. Differenzgutschrift für die innerhalb der letzten 12 Monate bezogenen Exemplare" aus*. Das bedeutet in klaren Worten: Wird der Ladenpreis runtergesetzt, kann jede Buchhandlung für alle im vergangenen Jahr bezogenen Titel nachträglich auch diese Differenz vom Verlag zurückverlangen! Ein immenser Aufwand, der sich auch bis auf die Abrechnungen von uns Autor*innen durchschlagen würde. Aus diesem Grund haben sich viele Verlage dafür entschieden, den Ladenpreis beizubehalten. [Edit 6.7.2020: Ideen, was man mit dem zusätzlich verdienten Geld machen könnte, und was ich davon halte, entwickeln die Verlage gerade. S. dazu meinen Blogbeitrag vom 6.7 .] . * Preisbindungstreuhänder Dieter Wallenfels und Christian Russ, Hat die Mehrwertsteuer-Senkung Auswirkungen auf den gebundenen Ladenpreis?; Artikel in Börsenblatt Online v. 2.6.2020; https://www.boersenblatt.net/news/verlage-news/preisbindung-hat-die-mehrwertsteuer-senkung-auswirkungen-auf-den-gebundenen (abgerufen am 6.7.2020).
von Kathrin Lange 04 Mai, 2020
Mit einiger Besorgnis habe ich in den letzten Tagen auf Facebook und anderweitig in den Sozialen Medien Diskussionen unter Autorinnen und Autoren verfolgt, in denen es darum ging, wie viel Honorar man eigentlich für eine via Skype oder Zoom durchgeführte Lesung verlangen kann. Da war unter anderem auch die Rede davon, das „erstmal ohne Honorar zu machen“, weil man selbst ja keine Erfahrung mit sowas habe und froh sei, auf diesem Weg dazulernen zu können. Ehrlich gesagt: Mir stehen die Haare zu Berge, wenn ich solche Argumentationen lese. Und mehr noch: Mir wird langsam unwohl bei all den vielen Online-Lesungen, die auch in Woche 6 der Corona-Krise immer noch stattfinden. Denn die meisten davon sind völlig öffentlich, es gibt keine Bezahlschranke, kein wie auch immer geartetes "Eintrittsgeld". Und niemanden, der die Lesenden für ihre Mühe bezahlt. Sicher war es in den ersten Wochen der Corona-Krise gut und richtig, für unsere Leserinnen und Leser da zu sein, vor die Kamera zu treten und Online-Lesungen abzuhalten. Der Ansatz, den Buchhandel damit zu unterstützen, war ehrenwert, und ich könnte mir vorstellen, dass viele Autor*innen auch froh waren über diese neue Art der Öffentlichkeit. Mir bereitete sie allerdings von Anfang an Bauchschmerzen. Denn die Sache hat leider einen unangenehmen Nebeneffekt: Wir haben unsere Leserschaft damit dazu erzogen, zu glauben, dass Online-Lesungen umsonst sind, und damit berauben wir uns der Möglichkeit, in Zeiten, in denen andere Möglichkeiten wegfallen, eine neue Form des Einkommens zu etablieren. Nun beginnen die Wochen nach dem ersten Corona-Schock. Verlage und Autor*innen fangen an, neue Lesungskonzepte zu entwickeln, bei denen der Autor/die Autorin nicht mehr hunderte von Kilometern durch die Republik reisen und Nächte in teuren (naja, ich gebe zu, bei manchen Veranstaltern durchaus auch weniger teuren) Hotels verbringen muss. Es wird überlegt, wie man den Zuhörerinnen und Zuhörern ein Gemeinschaftserlebnis bieten kann, wie man das mit dem Signieren hinbekommt (ja, auch das kann man online organisieren, ich habe bereits interessante Ideen dazu gehört!) Und das Allerletzte, was wir in diesen Zeiten gebrauchen können, sind Veranstalter, die der Meinung sind, die Lesung sei ja „nur“ online, dafür müsse man kein Geld bezahlen. Einmal billiger Jakob, immer billiger Jakob , heißt es im Volksmund nicht ganz ohne Grund. Sicher. Eine Online-Lesung benötigt von unserer Seite nicht so viel Aufwand wie eine anloge – Fahrt und Übernachtung fallen ja weg. Aber wir verwenden Zeit auf die Lesung selbst und vor allem: Wir haben vorher Zeit darauf verwendet, Bücher zu schreiben, aus denen wir lesen können. Oft eine Menge Zeit. Und in den meisten Fällen taten wir das im Vertrauen darauf, dass uns das so geschaffene Werk zum späteren Zeitpunkt Einnahmen in Form von Veranstaltungen ermöglicht. Für all die Ideen, die da jetzt so entwickelt werden, müssen in den kommenden Wochen und Monaten neue Honorarkonzepte entwickelt werden, was schwer genug sein wird. Etliche Verlage sind bereits genau mit dieser Aufgabe beschäftigt. Machen wir es ihnen doch bitte nicht noch schwerer, indem wir uns aus falsch verstandener Unsicherheit, momentan empfundenem technischen Unverständnis oder welchem Grund auch immer von vornherein unter Wert verkaufen. Hören wir auf, ganze Lesungen kostenlos zu streamen.
von Kathrin Lange 01 Dez., 2019
Bei der Preisverleihung des Wortrandale Literaturpreises 2019 am Wochenende wurden von den 30 Nominierten drei ausgewählt, die auf der Bühne um den Publikumspreis kämpfen durften. Wenn die Ziffer 4 gezogen worden wäre, dann wäre ich eine dieser drei gewesen. Da das Los auf jemand anderes fiel, blieb dem Saal mein Vortrag erspart, aber da er viel über mich aussagt, und vor allem darüber, warum ich "Jagdsaison 2023" geschrieben habe, stelle ich die nicht gehaltene Rede hier online. Guten Abend, meine Damen und Herren! Später am Abend würde er einem Jungen das Leben retten, aber das wusste er noch nicht, als er seine Schicht begann. Das ist der erste Satz aus meiner Kurzgeschichte „Jagdsaison 2023“, die hier für den ersten Wortrandale-Literaturpreis in der Sparte „Krimi“ nominiert ist. Da ich nicht genug Zeit habe, um Ihnen die Geschichte komplett vorzulesen, habe ich mich entschieden, Sie teilhaben zu lassen daran, wie sie entstanden ist. Zuerst war da der Name des Wettbewerbs. Wortrandale. Das klingt spannend. Kontrovers. Die Idee, etwas einzureichen, war fast augenblicklich da. Okay. Was nun? Beginnen wir mit der Tätigkeit, die wir Autor*innen gern verleugnen. Googeln wir mal. Randale ist eine Rockband aus Bielefeld. Aktuelles Album: Kinderkrachkiste. Da ist es, dieses Wort: Krach, das mir auch als erstes einfiel, als ich den Namen Wortrandale Literaturpreis hörte. Laut Wikipedia bezeichnet Randale umgangssprachlich „heftigen und lautstarken Protest, Krawall, Rabatz“ sowie „Ausschreitungen“.[1] Ähnlich wie das Verb randalieren schließt der Begriff sowohl die Aspekte Lärmen, Aufruhr, Unruhe-Stiften oder Unfug-Treiben als auch die Aspekte Belästigung oder Gewalt, insbesondere Schlägereien, Vandalismus etc. mit ein. Da stehen also die Aspekte „Belästigung und Gewalt“ neben „Schlägereien und Vandalismus“. Aha, dachte ich. Interessant. Denn, ja, ich gestehe, in meinem Kopf entstanden beim ersten Hören von „Wortrandale“ Bilder von brennenden Autos und Drogerien im Hamburger Schanzenviertel. Verbinden wir Randale nicht allzu oft mit linksextremen Ausschreitungen, während die Typen, vor denen ich die meiste Angst habe, auf ihren Veranstaltungen schweigend und bedrohlich durch die Straßen marschieren und ihre erigierten Arme nicht unter Kontrolle haben? Bei uns im Dorf gab es vor einiger Zeit einen Flyer, den die Antifa verteilte: „Mein Nachbar der Nazi“ stand auf dem schlecht kopierten und durchaus justiziablen Pamphlet. Die Antwort der auf diese tumbe Weise angegriffenen sogenannten Neuen Rechten kam ein paar Tage später: Als Brief mit elegantem Briefkopf, rechtschreibfehlerlos und rhetorisch stark formuliert. Klassisches Eigentor des linken Randes, dachte ich. Blöde Randalierer. Geht also der Begriff „Wortrandale“ vielleicht in eine falsche Richtung? Bin ich an dieser Stelle mit dem, was mich umtreibt, falsch? Ich würde Ihnen an dieser Stelle gern eine Geschichte erzählen. Sie handelt davon, wie Festtage in meiner Familie im Chaos hitziger Diskussionen über „die Flüchtlinge“ endeten. Sie handelt von meinem Widerspruch gegen unreflektiert geteilte Netzinhalte: „Warum erhalten Asylanten, die unsere Gesellschaft nicht akzeptieren, mehr Geld als der Rentner, der 45 Jahre gearbeitet hat?“ Meine Geschichte handelt von Sätzen wie: „Ich bin ja kein Rassist, aber …“ Von: „Wieso sollte ich meinen zweiten Satellitenempfänger im Keller, denen geben? Den brauche ich noch, als Ersatz, falls meiner kaputt geht!“ Und dann handelt meine Geschichte von diesem Unbehagen darüber, dass der Mensch, der mir dort gegenübersteht, jemand ist, den ich mag, den ich als Freund bezeichne, jedenfalls als guten Bekannten. „In was für einer krassen Wohlstandsgesellschaft leben wir?“, denke ich. „Dass wir es nicht aushalten, keinen zweiten Satellitenempfänger in Reserve zu haben?“ Kürzlich schrieb jemand in einer Facebook-Gruppe, in der ich Mitglied bin, er hänge weder rechten noch linken Ideologien an. Und nur wenige Zeilen weiter unten in seinem Post nannte er den Volkstrauertag „Heldengedenktag“. Meine Frage, ob da vielleicht eine subtile Absicht dahinter stecke, wurde mit „Natürlich nicht!“ und der entsprechenden Empörung beantwortet. Und ich stand da und fragte mich, mit was für einem Phänomen ich es hier zu tun habe. Hat da jemand mit subtiler rechter Agenda ganz ordentlich Kreide gefressen oder tue ich dem Schreiber unrecht, weil er nur verzweifelt versucht, das zu tun, was uns ja mittlerweile von allen Seiten eingebimst wird: die andere Seite ernst zu nehmen, zu umarmen? Eva Maria Stegmann hat in der vorletzten ZEIT geschrieben, Toleranz sei eben auch eine Frage des Milieus. Angehängt an diesen Post war übrigens ein Link zu einem Song mit klarer Botschaft: Vertragt euch! Süße Katzenvideos und das Toleranzparadoxon lassen grüßen. Knoten in meinem Hirn. Das ist, im Kern, meine Geschichte. Im Wesentlichen handelt sie von dem mal mehr mal weniger laut geäußerten Vorwurf an mich: „Hast du kein anderes Thema, als immer diese Nazis?“ „Jetzt hör doch endlich mal mit dieser Politik auf … wenigstens an Weihnachten!“ „Kann es sein, dass du paranoid bist?“ Die Demonstration der NPD am vergangenen Wochenende in Hannover wurde zuerst von der Polizei verboten, dann sowohl vom Oberlandesgericht Hannover als auch vom OLG in Lüneburg wieder erlaubt, denn man sah (Zitat) „keine ausreichenden Hinweise, die ein Totalverbot als schwersten Eingriff in die Versammlungsfreiheit rechtfertigen“. Das Netz vibriert. „Sind da etwa Nazirichter am Werk?“, fragt man sich. „Irritierend, dass hier ausnahmsweise mal die nicht Polizei die Nazia…“ Sie wissen schon. Sie kennen das alles. Randale mit Worten. Die asozialen Medien. Ein Auszug aus Fakenews und gesplitterten Realitäten: Faschismus von rechts, links und neuerdings auch aus der Richtung Öko? Die Regierung will das deutsche Volk austauschen. Islamisierung des Abendlandes. Fuck AfD. Drecksfotze! Wieso? Darf man doch heute sagen! Seehofer ist mal zu rechts, mal zu links, je nachdem, wann und von welcher Seite man guckt. Dieter Nuhr muss ein rechter Idiot sein, wenn er Greta doof findet, und jeder, der sich auch nur fragt, was das mit diesem Gendersternchen eigentlich soll, ist per se des Sexismus‘ verdächtig. „Nein, nicht jeder Geflüchtete bekommt 4.500 Euro im Monat.“ „Das ist doch eine völlig unzulässige Verknüpfung von Dingen, die gar nichts miteinander zu tun haben.“ „Halt lieber den Mund, weil wenn du dieses Unbehagen thematisierst, zerstörst du das Arbeitsklima.“ „Kinder! Es ist Weihnachten!“ „Hör endlich auf, so paranoid zu sein!“ Manchmal komme ich mir vor wie ein Kind, das sich auf den Boden wirft, weil es nicht weiß, wohin mit all den Gedanken und Gefühlen in seinem Kopf. Ein Kind, das alles ungefiltert aus sich rausschreit, was es doof findet oder auch einfach nur nicht versteht. Manchmal möchte ich – so richtig laut und nervig – randalieren. Und dann? Randale bedeutet laut Definition: heftiger und lautstarker Protest, denke ich. Und dann frage ich mich: Kann man auch leise randalieren? Mit Worten? Mit meinen Geschichten! Ich bin hier also doch richtig, denke ich. Vielleicht sogar goldrichtig. Denn: What if?, das ist die große Weltenbau-Frage der Krimischreibenden. Was wäre wenn? Was wäre wenn all das, was gerade alles schief läuft, in drei, vier Jahren noch schlimmer geworden wäre? Wenn es einen ausreichend machtgeilen Politiker einer der sogenannten Volksparteien geben würde, der, ganz Sebastian Kurz-like, seine Regierung von der hellblau lackierten Nazipartei tolerieren ließe? Was würde dann passieren? Das sind so die Gedanken, die mir durch den Kopf schießen. „Der Dichter schreibt nicht, weil er etwas weiß, sondern, weil er eine Frage hat“, sagt Milan Kundera. Wenn ich schreibe, kann ich mir am besten beim Denken zuhören. Also setze ich mich, verdammt nochmal, an den Schreibtisch und beginne. Jagdsaison 2023. Hier ein kleiner Auszug. „Die taz jibt’s heute nich“, sagte der Kioskbesitzer. „Is einfach nich jeliefert worden.“ Mit einem Kaffee und einer Ausgabe des Tagesspiegels kehrte Faris zu seinem Wagen zurück. Ein Mann im Anzug wartete schon auf ihn. Es gab einen kurzen Moment der Unschlüssigkeit, diese Sekunde in der Schwebe, in der so vieles steckte: das Registrieren von Faris’ arabischem Aussehen, die automatische Überlegung, ob es besser wäre, ein anderes Taxi zu nehmen, dann das Einsetzen des Verstandes. Nein, man war ja schließlich kein Rassist. Ich danke Ihnen.
von Kathrin Lange 01 Dez., 2019
In der Kategorie "Tiefsinnig/Nachdenklich" gewann die Faris Iskander-Kurzgeschichte "Jagdsaison 2023" am Wochenende den Wortrandale Literaturpreis Die Kurzgeschichte ist in der soeben im Konkursbuchverlag erschienen Anthologie "Wenn im Norden das Licht schmilzt" abgedruckt. Die Anthologie kann in jeder Buchhandlung bestellt werden oder online hier . Gleichzeitig gibt es die Story auch als exklusiven Hörbuchdownload auf allen einschlägigen Hörbuchportalen.
von Kathrin Lange 11 Nov., 2019
Salah sitzt mit den anderen Mitgliedern des Teams zusammen und bespricht den Arbeitsplan der nächsten Tage, als sein Handy klingelt. Ein Bewohner bittet um einen Termin für ein Gespräch, er könne kaum schlafen. Offenbar hat er Flashbacks. Das gesamte Team geht gemeinsam den Stundenplan durch, um zu schauen, ob irgendwo Zeit für ein Erstgespräch ist. Nach einigem Suchen ist einer der wenigen freien Plätze gefunden, und es entspinnt sich ein Gespräch ...
von Kathrin Lange 13 Okt., 2019
"Im Wartezimmer saßen ein alter Mann und eine Kranke." Alles ist Erzählung.Es gibt Gedanken, die ich verscheuche ...
von Kathrin Lange 07 März, 2019
Rutsch mir den Buckel runter sagt sie mit diesem Grimm tief drinnen dort wo normalerweise die Wut schlummert weil man sich ungerecht behandelt fühlt dieses Ich-will-auf-eine-einsame-Insel-Gefühl wenn man sich im Hundekörbchen zusammenrollt und den Popcorngeruch der Hundefüße aufsaugt nur nicht dran denken, dass die Zeit begrenzt ist und Mona ist jetzt auch schon zehn hat er gerade neulich gesagt Zivilisation ist sowieso nur das was wir uns ausdenken nachts um drei wenn wir das Bettzeug weggestrampelt haben weil uns erst warm war und dann viel zu kalt nebeneinander schweigend und der Traum an den wir uns morgen früh nicht mehr erinnern streichelt uns Gänsehaut auf die Stelle zwischen den Schulterblättern Empörung fühlt sich an wie ein Kälteschauer tief drinnen aber manchmal weiß man eben nicht ob es nicht doch Scham ist über den Fehler, den man gemacht hat aber ist es gerecht einzuschnappen wie eine Auster und jedes Gespräch abzuwürgen sogar dieses eine Wort: Entschuldigung? Körbchen ist ja auch so ein komisches Wort zu dem einem erstmal nichts einfällt außer vielleicht BH-Größen und das ist ja dann schon nervig zu wissen der Schwerkraft entgeht keiner nichtmal der Ballon den ich neulich flugmüde im Feld habe liegen sehen
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